SchnitterInnenzeit –
Die Kunst zum richtigen Zeitpunkt einen Schnitt zu machen
Auf den Feldern sind die ersten Mähdrescher schon Tag und Nacht im Einsatz – die SchnitterInnenzeit kündigt sich an. Mitten in die Fülle hinein wird das Korn geschnitten, damit es uns ganz in seiner Kraft später als Nahrung dienen kann.
Im alten keltischen Kalender beginnt mit der Schnitterin auch die Zeit des Herbstes, die Kraft der Pflanzen geht wieder nach innen, zurück in die Wurzeln. Und ich spüre, wie sich mir beim Schreiben ein Widerstand entgegensetzt, der sagt, du kannst doch jetzt noch nicht vom Herbst schreiben – wo doch gerade der „Sommer“ erst kommt. Und da zeigt sich mir, wie verdreht die Bilder der Jahreszeiten auch in mir sind, dass ich den Sommer an den Temperaturen messe, die ja erst jetzt steigen, anstatt an den Vorgängen in der Natur. Und ich nehme in mir wahr, dass wir alle durch die Einteilung des Kalenders in die Jahreszeiten, so wie wir sie heute kennen, von der Natur und dadurch von altem Wissen abgeschnitten wurden.
Es ist unpopulär, nicht werbewirksam und nicht spektakulär, Anfang August vom Beginn des Herbstes zu sprechen. Wir wollen es nicht hören und können auch nur schwer damit umgehen (obwohl der Sommer dadurch nicht kürzer wird, denn er hat ja nach altem Kalender auch schon im Mai begonnen). Und das zeigt mir auch, wie wenig wir es geübt sind, mit Abschieden umzugehen. Wir verleugnen Trennung und Tod, obwohl wir mit beidem Tag für Tag umgeben sind.
Wir sind eine Kultur, die verlernt hat, in Dankbarkeit und Wertschätzung Abschied zu nehmen, eine Kultur, die uns mit Schmerz, Trauer und Tränen weitgehend allein lässt. Wir schämen uns, wenn wir weinen und fühlen uns mit unserem Schmerz als Belastung für andere, ziehen uns zurück und bleiben damit alleine, statt uns damit der Gemeinschaft anzuvertrauen. Hochzeiten werden gerne gefeiert, doch fehlen uns die Rituale für Trennungen. Wir sind gut darin, Dinge zu kaufen, Materie anzuhäufen, Atomkraftwerke zu bauen… und haben keine Ahnung wie wir den Abfall entsorgen.
Die Kunst liegt meiner Meinung nach in der Selbstbeschränkung, ein gutes Maß zu finden, das uns und dem Leben dienlich ist. Und so bin ich überzeugt, dass es, wenn wir noch länger auf diesem schönen Planeten leben wollen, dringend notwendig ist, dass wir uns wieder mit den herbstlichen Qualitäten des Sinkens, des Schneidens und des Beschränkens anfreunden und sie in unser Leben hineinweben.
Um mitten in die Fülle hinein zu schneiden brauchen wir Reife und Erfahrung. „Mitten in die Fülle schneiden kann nur eine Person, die verstanden hat, dass es sowieso ein Ende des Wachsens und der Entfaltung gibt. Die gelernt hat, dass zur Ernte die Sichel geschärft werden muss und die mit der Sichel auch sicher umzugehen weiß. Denn ein unsicher und unentschlossen geführter Schnitt richtet Zerstörung an und nicht Ernte. Der erste Schritt in die Kunst des aktiven Schneidens und Beendens besteht darin, dass wir aus Lebenserfahrung das Wissen erlangen, wann etwas reif ist. Setzen wir den Schnitt richtig, gereicht uns das Beenden zur Nahrung. Schneiden wir zu früh oder zu spät, dann verhungern wir.“ ( U.Seghezzi, Kompass des Lebens, S. 207)
In einer Kultur, in der Abschied nehmen nicht kultiviert ist, haben wir oft wenig Unterstützung darin, den richtigen Zeitpunkt zu erkennen. Ich mag euch da ein Bespiel aus meinem Leben als junge Mutter schildern: Mein Sohn muss etwa 6 Monate alt gewesen sein, als ich ihm zum ersten Mal einen Möhrenbrei kochte. Ich hatte gelesen, es sei gut, in diesem Alter mit dem Zufüttern zu beginnen und eine erste Stillmahlzeit zu ersetzen. Doch innerlich waren wir beide wohl noch nicht so weit. So reagierte mein Sohn auf den Brei mit starker Verstopfung. Nach mehreren erfolglosen Besuchen beim Kinderarzt und unzähligen qualvollen Stuhlgängen hörte ich endlich auf meine innere Stimme, die mir sagte, ich solle den Möhrenbrei einfach weglassen und wieder voll stillen. Milch hatte ich genug und so wurde mein Sohn mühelos ohne Möhrenbrei satt. Und siehe da, als er dann im Alter von etwa 10 Monaten von selbst mehr und mehr von unserem „Erwachsenenessen“ probieren wollte, vertrug er es wunderbar und es gab keinerlei Verstopfungsprobleme mehr. Es war mit 6 Monaten einfach nur zu früh für uns gewesen.
Vor etwa einem Monat fand ich in Bordesholm die „Schluss-Mach-Bank“, vermutlich von Jugendlichen erschaffen. Eine wunderbar geniale Idee, dachte ich und setzte mich darauf. Der richtige Zeitpunkt wurde mir durch die Begegnung mit der Bank quasi entgegengebracht und ich brauchte mich ihm nur zu öffnen. Ich spürte also in mich hinein, fragte mich, womit ich den Schluss machen möchte und mir wurde bewusst, wie oft ich an der Vergangenheit festhalte, an alten Überzeugungen, an dem, was mir vertraut ist, was ich kenne, auch wenn es mir nicht mehr gut tut. Ich tue das, weil es mir vermeintlich Sicherheit gibt und gleichzeitig hält es mich davon ab, die Gegenwart wahrzunehmen und der Zukunft unvoreingenommen zu begegnen. Ich machte einen bewussten Schnitt und entschied mich, meine alten Gedankenmuster und Überzeugungen aus der Vergangenheit nicht nur loszulassen, sondern bewusst abzuschneiden. Dieses bewusste Schneiden habe ich als sehr intensiv und stärkend erlebt und ich spüre in mir eine größere Klarheit und Präsenz.
Und hier noch ein ganz aktuelles Beispiel aus meinem Leben: Ich habe die vergangenen 2-3 Wochen damit verbracht, meine aufgenommenen Lieder für die neue CD zu hören und zu überprüfen, ob noch etwas geändert werden soll. Da gilt es, Lautstärkeverhältnisse zwischen den Stimmen und zwischen Instrumenten festzulegen, Instrumentalteile oder Stimmen evtl. auch an einzelnen Stellen wieder heraus zu nehmen, weil sie da zu viel sind, zu hören, ob alle Stimmen synchron sind, etc., viele Feinheiten, die dem/r Hörer/in nur auffallen, wenn sie nicht stimmen – und da gibt es immer noch etwas zu finden, noch genauer hinzuhören… Es könnte vielleicht endlos noch etwas verbessert werden, doch dann käme die CD nie in den Druck. Es ist jetzt Zeit einen Schnitt zu machen, zu entscheiden, nun ist es „gut genug“ und die CD freizugeben. Morgen wird Volker das „master“ machen. Das ist die CD, die dann ans Presswerk geschickt wird. Am 1. August soll sie dort sein.
Den richtigen Zeitpunkt finden wir in keinem schlauen Buch, bei keinem noch so guten Therapeuten, bei keiner/m Freund/in, bei keinem Arzt. Das Wissen um den richtigen Zeitpunkt finden wir nur in uns selbst! Ihn zu erkennen braucht Übung, Selbstbeobachtung und Mut! Niemand kann uns das abnehmen, aber wir können uns gegenseitig unterstützen, indem wir einander zuhören, indem wir füreinander da sind und unsere Erfahrungsschätze miteinander teilen.
So können wir gemeinsam eine neue Kultur erschaffen, die alle Facetten des Lebens mit einbezieht, die uns mit all unseren Gefühlen annimmt wie wir sind und die Heilung und ein liebevolles Miteinander auf diesem schönen Planeten möglich macht.
Womit ist es für dich an der Zeit, Schluss zu machen und einen Schnitt zu setzen?
„Ich will aufhören besser zu werden und beginnen GUT ZU SEIN“
Ich verabschiede mich von Thomas und unserer gemeinsamen Zeit miteinander.
Liebe Sabine,
… Deinen Text über die SchnitterInnen-Zeit zu lesen war für mich ein Genuß. Du schreibst so wunderbar. Und darin wird ein Umgang mit Gefühlen beschrieben, der so ganz anders ist, als das, was ich in dem Buddhistischen Zentrum, in dem ich war, vermittelt bekommen habe. Es wirbelt in mir ganz schön herum und ich merke, dass es noch eine Zeit dauern wird, bis ich da einen Schnitt machen kann.
Danke für deine inspirierenden Zeilen, sie kommen auch Mitte August noch zur rechten Zeit.
Auch in Bayern war ich umringt von Feldern, auf denen tagelang und unermüdlich die Bauern mit ihren Mähdräschern unterwegs waren. Ich war erstaunt, wieviel Zeit dafür notwendig ist. So sehe ich nun mit anderen Augen auf mein Müsli und mein Brot.